Lienhard. Editionen. Kalender. Kunst.Ostschweiz

Kunstkalender 2021Cornelia Büchel

Konzept – Cornelia Büchel, Flawil
Text – Dorothee Messmer, Direktorin Kunstmuseum Olten
Layout – Susanna Entress, Frauenfeld
Druck – Mattenbach AG, Winterthur

Lienhard Edition Nº1
©2021 — Cornelia Büchel

www.kuenstlerarchiv.ch/corneliabuechel

Cornelia Büchel ist 1961 in Tübach geboren. Seit 1982 lebt und arbeitet sie in Flawil. Schon während ihrem Berufsleben im gestalterisch-pädagogischen Bereich hat sie sich künstlerisch weitergebildet. Nach einer Reise nach Pompei (1991) begann sie sich mit der Antike, der Freskomalerei und der Welt der Pigmente zu befassen. Als Gipser-Praktikantin arbeitete sie während zwei Jahren im denkmalpflegerischen Bereich und suchte nach dem Ultimativen Rot. Immer mehr begann sie sich für Risse und die Gesetze des Zerfalls zu interessieren. So entdeckte sie auch die Geheimnisse von sich selbst organisierenden Mustern in der Natur, und macht immer wieder Beobachtungen, die man in der Physik und der Biologie wahrscheinlich schon längst kennt.

In ihrem Atelier verfolgt sie zeichnerisch und malerisch eigene Regeln und erschafft dabei Bilder, die an mikroskopische Ansichten erinnern. In ihren langen kleinformatigen Entwicklungsreihen, ihren Schrift-und Bildleporellos, denkt sie mit Hingabe über das nach, was sie tut. Ihre Gedanken setzt sie dann in grossformatige Ölbilder, in grosse Tuschezeichnungen und in Drahtnetze um. Und wenn sie wieder einmal aus ihrem Mikrokosmos auftauchen will, entstehen menschliche Figuren, Tiere oder Pflanzen.

Dorothee Messmer
Bildfindungen aus dem Nichts

Besonders in Erinnerung bleiben mir Cornelia Büchels Hände, die auf dem grossen Tisch ihres Ateliers in Flawil den Prototyp jenes Kalenders ausbreiten, den sie für das Jahr 2021 gestaltet hat. Sorgfältig und behutsam nehmen sie die noch ungealterten, meist doppelseitig verwendeten Streifen aus Zeichenpapier hervor und breiten sie zur Ansicht aus. Die Blätter stehen für die zwölf Monate des Jahres und werden später als Leporello zusammengefaltet und in eine würfelförmige Box gelegt. Was für ein Erlebnis wird das für all jene sein, die das so gebündelte Präsent am Ende dieses Jahres in ihrem Briefkasten entdecken und es genüsslich auspacken dürfen!

Zuvor hatte mich Cornelia Buchel durch ihrAtelier geführt, das sich in den ehemaligen Wohnräumen eines Ostschweizer Arbeiterhauses befindet und die eintretenden mit seinem althölzernen, fussbodenknarrenden, in Sonne durchtränktem Inneren empfängt. Die Risse und Löcher in den Wänden sind bedeckt mit grossformatigen, meist schwarz-weissen Ölbildern und Zeichnungen, welche die Beschäftigung mit dem Mikrokosmos erahnen lassen. Aber auch Schriftbänder, Gedichte und Zitate auf Papierfetzen hangen zwischen blauen Portraits oder mit breitem Pinselstrich festgehaltenen Pflanzen oder Tieren.

Cornelia Büchel beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Prozessen, die weder konzeptuell noch dem Zeitgeist verpflichtet sind. Sie versteht ihre Arbeit als «Forschung». sie zeichnet und schreibt aus einem inneren Drang heraus, der Werke voll Poesie aufs Papier oder die Leinwand bringt.

In ihren kleinformatigen Leporellos arbeitet sie mit beschränkten Mitteln: schwarze Tinte, Filzstift oder Tusche. Dabei lasst sie ihrem bildnerischen Ausdruck freien Lauf und füllt die Blatter mit aktuellen Bildideen, Gedankengängen, Vorstellungen und Imaginationen, die als flüchtige Momentaufnahmen eines inneren Ist-Zustandes festgehalten werden, bevor sie sich aus der Erinnerung verlieren.

Für ihre Bildfindungen, die sich aus dem Nichts entfalten verwendet sie Techniken, die in der Kunstgeschichte eine lange Tradition haben, etwa in der «Ecriture Automatique» zu Beginn des 20. Jahrhunderts,  als surrealistische Künstlerinnen und Künstler sicht mit den Impulsfunktionen und Anregungen der spielerischen Betätigungen auseinandersetzten. Sie verstanden das Spiel als Entdeckungsreise ins Unterbewusstsein und als notwendige Inhibitionsspanne, um persönliche Gestaltungsprozesse in Gang zu bringen und Gedankengänge sichtbar zu machen.

Und ja, manche der Blätter wirken, auch wenn sie einen akkuraten Gestaltungsprozess durchlaufen, wie die «Telefonzeichnungen», welche unsere Hände, sofern sie einen Stift halten, während eines Gesprächs oder eines wichtigen Gedankenganges meist unbewusst auf das Papier bringen. Übrigens hat die Wissenschaft schon längst erkannt, dass Zeichnen während des engagierten Zuhörens – etwa in der Schule oder bei Sitzungen – nicht etwa ablenkt, sondern im Gegenteil zur Aufmerksamkeitssteigerung beitragen soll.

Bei Cornelia Büchel sind es Zellstrukturen. Netze von grossen und kleinen Gedanken, die im Zeichenprozess den Raum erobern. Jeder Baustein gleicht dem andern, entfaltet jedoch seine eigene Individualität. Dieses Entwickeln und Weiter-Spinnen von einzelnen Zeichen zeigt sich etwa in Form von Ketten, Waben, Verzweigungen oder zieht sich als Sprachfetzen über das Papier. Das Göttliche sei an dessen Handschrift zu erkennen, sagt die Künstlerin. Individualität habe ihren Ursprung in den kleinsten Teilen.

Den Zellen liegen bestimmte Gesetzmässigkeiten zugrunde, an die sie sich beim Zeichnen hält, was wiederum an die Eigenschaften der aus der Naturwissenschaft bekannten Rhizome erinnert, die allem Leben irgendwie zugrunde zu liegen scheinen. Ein Rhizom ist ein «vielwurzeliges» in sich verflochtenes System. Es kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen. Es kann an je der beliebigen Stelle gebrochen werden und wuchert entlang seiner eigenen oder anderen Linien weiter. Ja, man kann sich fragen, ob das spezifische der Botanik nicht gerade das Rhizomorphe ist. So entwickelt sich auch in den Zeichnungen von Cornelia Büche nach und nach eine sich stetig vergrössernde Dichte von Zeichen, die endlos weiterwachsen würde, wäre da nicht die Grösse des Papiers, die dem eine Ende setzen würde.

Die Wahl des Mediums fasziniert daher besonders, denn die Handzeichnung bietet eine Grundlage, auf der Cornelia Büchel auch ausgesprochen subjektive Perspektiven aufbauen kann. Denn anders als die Malerei, die ganz auf die Fläche hin ausgerichtet ist, skizziert die Zeichnung durch ihre Strichhaftigkeit lediglich die Umrisse einer Realität. Sie beschränkt sich auf die Berührungslinien der Flächen, die das Auge erst beim Betrachten vervollständigt. Vergleichbar ist dies etwa mit dem Programmieren von Computer-Codes, die – obwohl sie lediglich bestimmte Informationen liefern dem System erlauben, ein Ganzes zu (re-)konstruieren und als solches darzustellen. Die Zeichnung bleibt so provisorisch, unvollendet, skizzenhaft und wird kaum je eindeutig. sie behält sich immer einen Freiraum offen, in dem das Auge mehr wahrnimmt, als die Linie zeigt.

Zudem führt die Einfachheit der Mittel, der Schnelligkeit der Umsetzung und der Schwierigkeit zu korrigieren, zu verbessern oder zu überdecken, dazu, dass sich in den Blattern die spontaneitat, Originalität und Authentizität der Künstlerin unmittelbar auszudrücken scheinen. Dadurch erhalten die Blätter einen Ausdruck von Intimität und Seelisch-Seismischem. Gemeinsam mit den Gedanken der Künstlerin und den Gedichten, die als Spiegel der momentanen Befindlichkeit wirken, fügt sich alles zu einem Reigen zusammen, der die Betrachtenden durch das Werden und Vergehen eines ganzen Jahres begleitet.

Zuletzt nimmt uns Cornelia Büchel mit dem Kalender mit in eine «Zone der Poesie», wie Harald Szeemann es einst formulierte. Dies kann bisweilen auch sehr direkt geschehen – etwa, wenn die Künstlerin am 1. Februar unter Angabe Ihrer Adresse schreibt: «Mein 60er Geburtstag! Freue mich über Briefe»

Cornelia BüchelsSchaffen

Cornelia Büchel (*1961), Flawil

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