Lienhard. Editionen. Kalender. Kunst.Ostschweiz

Kunstkalender 2019Anita Zimmermann

Wer möchte, kann den Kalenderblock als Daumenkino durchblättern und dem Mädchen bei seinen Kapriolen folgen.

So führt uns ein Mädchen tanzend und spielerisch von Tag zu Tag und lädt ein, uns selbst etwas Bewegungsfreiheit zu verschaffen, ja vielleicht jeden neuen Tag beschwingt mit einem Tänzchen zu begrüssen.

Corinne Schatz

Zeichnen – ein Arbeitsbeschrieb

Jeder kann zeichnen – man muss es nur tun, und ein wenig Übung und Sorgfalt ist nötig. Die Zeichnung steht für eine Laune und für den Zufall und transportiert das, was dem Betrachter gilt, so wie mir eine verbale Mitteilung gelingt oder nicht. So zeichne ich gerne – ohne Vorzeichnen und mit Feder und Tusche. Das ist etwas wie schöne Selbstgespräche. Ich zeichne und rede in Gedanken mit der Zeichnung über das, was entsteht. Eine Verhandlung zwischen meiner Seele, dem Zufall und meinem Kopf. Die Zeichnung ist eine Sprache und will Mitteilung sein. Zeichnen passiert im Kopf – alles entsteht im Kopf. Die Zeichnung ist unmittelbar und gehört mir ganz allein. Zum Ersten. Sie gehört auch dem Betrachter, wie das Wort einem Zuhörer. Kunst hat keinen höheren Anspruch als so gelesen zu werden, wie sie lesbar ist. Ich bin noch nicht weit mit dem Zeichnen für den Kalender. Ich bin erst bei Blatt 50 angelangt und bin nicht sicher, ob die gesamte Arbeit genug spannend wird. Was mich als Zeichnerin interessiert, ist die inhaltliche Referenz bis hin zur Disziplin, z. B. wenn ich nicht mehr weiterzeichnen mag. Zeichnen ist eine Verhandlung zwischen Kopf und Bauch und dem Werkzeug. Der Kopf darf sich dabei nicht zu stark einmischen, sonst beginnt er zu korrigieren, indem er kritisiert. Änderungen möchten bewusst eine Botschaft transportieren. Trotzdem brauche ich dafür den Kopf – damit ich überhaupt weiss, was ich zeichnen soll. Ich möchte ja dem Betrachter etwas mitteilen und ich kann nur das zeichnen, was ich weiss. Was ich nicht weiss, muss ich entweder abzeichnen oder recherchieren.

Ich habe jetzt 100 Zeichnungen und sehe nun, dass die Bewegung so funktioniert, wie ich das Zeichenprojekt geplant habe. Keine Trickfilmschritte, sondern grössere Bewegungen. Ich zeichne nicht mit Abpausen, sondern ich beginne jede Figur an einem anderen Ort. Damit ist das Zeichnen wie ein Spiel. Die Arbeit gefällt mir. Aber warum dieses Sujet? Ich möchte Bewegung zeichnen. Bewegung zeichnen kann ich entweder mit Vorstellungskraft oder ich brauche dafür ein Vorbild. Beides ist spannend. Allerdings ist Ersteres im Kopf aufwändiger und erschöpft sich schneller, bevor es sich automatisiert. Deshalb verwende ich eine Filmvorlage. Ein Mädchen springt und dreht sich. Ich möchte im Ganzen 500 Mal dieses Mädchen von einem Film mit Bildstopp vom Smartphone abzeichnen. Ohne Vorzeichnen. Und ich akzeptiere Grösse und Platzierung. Ich zeichne direkt mit Füllfeder und Tusche – je auf ein Blatt Papier.

Immer wieder kleckst der Strich. Ich akzeptiere alle Zeichnungen so, wie sie sind. Wenn es nicht ganz gefällt – zwinge ich mich zur Akzeptanz. Nicht sehr schwierig, denn ich vertraue ja meinem Strich und meiner Seele. Weil ich weiss, dass sie zeichnen kann. Ich akzeptiere sogar, dass ich mich zum Weiterzeichnen zwingen muss. 500 Mal ein Kind zu zeichnen ist eine ernsthafte Arbeit. Sie reicht vielleicht zu einer komplexen Analyse für einen Psychologen oder ist wichtig wie die Formsuche für einen Töpfer – und auch so langweilig, wie der Ablauf einer Wiederholung der monotonen Tätigkeit eines Fabrikarbeiters am Förderband.

Ich brauche Disziplin dafür, aber sobald ich bei der Arbeit bin, kann ich denken wie auf einem Spaziergang. Das Erlebnis verändert sich dabei. Ich bin nun bei Blatt 320 angelangt. Immer wieder verändern sich die Stadien. Eigentlich würde ich gerne aufhören, ich habe mir aber 500 Zeichnungen versprochen. Im ersten Drittel war ich nicht sicher, ob mir die Arbeit überhaupt gefällt. Weil ich gerne zeichne, habe ich angefangen mich zu beobachten. Die Bewegung, der Zeichenstil, die Faltenverläufe, die Motivation, die Sorgfalt und wo genau mein Eifer dafür und meine Vertiefung dabei gelagert ist. Im zweiten Drittel konnte ich mir viel Gedanken machen über Disziplin und was Zeichnen ist. Im letzten Drittel hat mir die Arbeit plötzlich sehr gefallen und die Überwindung war nicht mehr notwendig. Als Ganzes ist sie ein Erlebnis geworden und man spürt den Prozess vom Zeichnen. Nun bin ich bei Blatt 400.

Es ist eine Arbeit geworden wie Bügeln oder Jäten oder Kochen oder Buchhalten. Aber ich mache es gerne. Keine Zweifel mehr. Kein Ringen um etwas Spannendes. Das Zeichnen ist bequem geworden. Künstlerisches Schaffen ist eine Verbindung von Loslassen und Entschiedenheit, bevor ein Ziel sichtbar ist. Ein schwebender Zustand. Gleich dem Forschen, ohne dass ein Ergebnis blüht, um mich ganz frei zu machen, um einen ganz neuen Weg zu beschreiten.

Ich hatte bei der Zeichenarbeit mit dem Mädchen genau dieses schwebende Erlebnis, auch wenn ich ab und zu gerne aufgehört hätte. Gleich einem langen Spaziergang, wo man immer vor der Entscheidung steht ob man doch den Zug nehmen möchte, um schneller zu Hause zu sein. Ich habe viele Pausen gemacht dabei. Nun, am Ziel angelangt, bin ich stolz darauf, merke sogar, dass es 505 sind – und ich verwende alle. Die letzten 100 Zeichnungen setze ich an die erste Stelle. Die Zeichnungen haben damit einen runden Ablauf. Der Block funktioniert als Abreisskalender, aber auch als Daumenkino oder als Tagebuch. Ein Mädchen springt und dreht sich. Zeichnen passiert im Kopf. Alles ist Zeichnen. Zeichnen ist eine wichtige Mitteilung und benützt eine eigene Sprache, die wir nur uns selber beibringen können. Dieses Schweben. Nur das Emotionale vom Professionellen zu trennen ist eine Herausforderung.

Anita Zimmermann

Zeichnend durch das Jahr tanzen

Da tanzt und hüpft ein Mädchen über die Blätter von Anita Zimmermanns Abreisskalender, den sie als diesjährigen Kunstkalender für Lista Office gestaltet hat, und begleitet uns anstelle von weisen, besinnlichen oder mehr oder weniger spassigen Sprüchen – durch das Jahr.

«Ich bin eine Zeichnerin», sagt die Künstlerin über sich selbst. Wer sich nun vorstellt, dass sie tagein, tagaus mit Bleistift und Papier alleine am Zeichentisch sitzt und Linien aufs Papier zieht, täuscht sich allerdings. Ob im Kleinstformat oder wand- und raumfüllend, die Zeichnung kennt bei ihr keine Schranken. Ihre Ausstellungen, wie die Installation im Architekturforum in St. Gallen (2016), zeigen, wie grenzensprengend und raumgreifend sie mit dem schlichtesten der Medien umgeht. Lange Papierbahnen hingen dort von der Decke bis zum Boden und legten eine fliessende architektonische Struktur in den Raum. Sie waren bevölkert von allerlei Figuren, die auf Seilen balancierten, mit verschiedensten Gegenständen hantierten oder etwas erstaunt auf fliegenden Teppichen durch die Szenerien schwebten.

Die einfache Bezeichnung einer künstlerischen Technik eröffnet im erweiterten Verständnis, wie Anita Zimmermann es pflegt, Horizonte des Denkens, Planens, Ideen-Entwickelns in alle Richtungen – Zeichnen im Kopf oder Kopfarbeit nennt sie das. Vielleicht ist ihr Verständnis des Zeichnens eher im Sinne des disegno zu betrachten, wie es in der Renaissance entwickelt wurde: Disegno meint in erster Linie die Idee, das geistige Konzept, die Zeichnung selbst – und später das Gemälde – bringen diese «nur» in eine sichtbare Form. In der Idee zeigt sich die Meisterschaft des Künstlers, seine Imagination und seine Fähigkeit, ein Thema, eine Geschichte in einer inhaltlich und formal spannenden Komposition zu vermitteln. Überträgt man diese Haltung in die heutige Zeit und auf Anita Zimmermanns künstlerischen Kosmos, so könnte man sagen, ihr Zeichnen im Kopf sei ein Entwickeln von Ideen, ein Erschaffen von imaginären Welten, die sich in real existierenden Kunstwerken kristallisieren. Diese können, müssen aber nicht die Form von Zeichnungen annehmen. So entwickelt Anita Zimmermann auch Projekte, die weit über das eigentliche Medium des Zeichnens hinausgehen. Das Entwickeln von Projekten, die viele Kunst- und Kulturschaffende, aber auch Laien zusammenführen, ist ihr ein besonderes Anliegen und sie lässt eine unbändige Fantasie zutage treten, wenn es um die Orte ihres Wirkens wie auch um die Form dieser Projekte geht. Es sind kleine Nischen ebenso wie gross angelegte Ausstellungen und Veranstaltungen, die auf Initiative der Künstlerin zustande kommen. In den letzten Jahren erschuf sie sich dafür ihr freches Alter Ego Leila Bock, die nun immer mal wieder auftaucht und Künstler und Besucherinnen zu Geilen Blöcken einlädt. Oder ins Volksbad St. Gallen zum Singen eines Liebesliedes im Künstlerchor für das Filmprojekt «Schildkrötenherz».

Aber natürlich ist die Zeichnung Anita Zimmermanns wichtigstes künstlerisches Medium und Zeichenlehrerin ist ihr erlernter Beruf. Auch im buchstäblichen Sinn öffnet das Zeichnen bei ihr Räume für das Zusammenführen von Menschen im Reich künstlerischen Denkens und Tuns. Es kann zum gemeinschaftlichen öffentlichen Ereignis werden und ans Publikum die Einladung ergehen, ihr und Künstlerfreunden beim Zeichnen zuzusehen oder gar mitzuwirken. Immer wieder organisiert sie, teilweise in Zusammenarbeit mit Jordanis Theodoridis, für kleinere und grössere Gruppen von Kindern und Erwachsenen gemeinsame Zeichenaktionen, sie nennt sie Zeichendiktat. Als Kunst-am-Bau-Projekt erfand sie für das Gerhalden-Schulhaus in St.Gallen das Werkbuch Wenn Schnecken hüpfen könnten, das viel Raum lässt für die Kinder zum selber Gestalten.

Für den diesjährigen Lista Office-Kunstkalender hat Anita Zimmermann die Form eines Abreisskalenders gewählt. Ob Lebensweisheiten, Witze, Rätsel oder Bauernregeln – es gibt für jeden Geschmack, jedes Alter und jedes Bedürfnis das Passende für diese noch immer beliebten Begleiter durch das Jahr. Anita Zimmermann liess sich natürlich etwas Besonderes einfallen und zeichnete ein Mädchen, das nun von Tag zu Tag, von Blatt zu Blatt tanzt und hüpft. Gezeichnet hat die Künstlerin nach kurzen Zeitlupen-Filmen, die sie von dem Mädchen gedreht hatte, um es von seiner Langeweile abzulenken. Halb selbstvergessen, halb der Beobachtung gewahr albert das Mädchen herum, dreht sich, bückt sich, springt auf und schwingt seine Arme durch die Luft. Die Zeichnerin isoliert die Figur auf dem Blatt und fängt mit wenigen Strichen ihre Bewegungen und Körperhaltungen ebenso prägnant ein, wie ihre zwischen Ernst und Spiel schwankende Stimmung. Über 500 Zeichnungen sind so entstanden, jedem Kalender liegt ein anderes Original bei.

Wer möchte, kann den Kalenderblock als Daumenkino durchblättern und dem Mädchen bei seinen Kapriolen folgen.

So führt uns ein Mädchen tanzend und spielerisch von Tag zu Tag und lädt ein, uns selbst etwas Bewegungsfreiheit zu verschaffen, ja vielleicht jeden neuen Tag beschwingt mit einem Tänzchen zu begrüssen.

Corinne Schatz 

Spielerisch tanzend durch den Tag hüpfen, eigene Geschichten formen und Zeichnungen entstehen lassen, beschwingt und frei.
Die Familie Lienhard wünscht Ihnen die spürbare Leichtigkeit dieses Kindes, die Freude und den Schwung für das neue Jahr.

Anita ZimmermannsSchaffen

Anita Zimmermann (*1956), St.Gallen

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