Lienhard. Editionen. Kalender. Kunst.Ostschweiz
Kunstkalender 2023Beatrice Dörig
Becoming Form | Ausgleichen I-XII
© 2023 Beatrice Dörig for Lienhard Edition N°3
12 Lithografien, Fineliner auf Papier, Steindruckerei Wolfensberger, Zürich
Einschwingen. Lange her. Ich hatte mal einen Plan B. Falls es in der Schule harzen sollte, werde ich Töpferin und Gärtnerin. Plan B hilft, alles und insbesondere Plan A entspannt anzugehen, was wiederum in der Umsetzung sämtlicher Pläne hilft. Aus Plan B wurde nichts, aber getöpfert habe ich trotzdem mal und in die Erde greifen tu ich heute noch gerne.
Ausgleichen. Wenn Beatrice Dörig einen Stift in die Hand nimmt und damit einen möglichst runden Kreis zieht, nachfasst, weiter den Stift der Linie entlangführt, bis jede Ausbuchtung verschwindet und innen wie aus-sen eine scheinbar kreisrunde Begrenzung entstanden ist, fühlt sich dies beim Betrachten an, als wäre ein Klumpen Tonerde unter den Händen, die Töpferscheibe dreht und der Prozess des Zentrierens beginnt. Erst wenn sich der Klumpen ohne Holper im Kreis dreht, kann mit der Formgebung begonnen werden.
Becoming Form. Die Kreisbilder entstehen durch ein konzentriertes, meditatives Führen einer Linie um sich selber herum. Eine Spiralbewegung nach innen und nach aussen. Für die Täuschungen liebende Augen wachsen aus den Linien dreidimensionale Gebilde, es ist eine Formwerdung als analoges Rendering. Es geht um das Erfahren von Zeit, um ein individuelles Erle-ben, nicht um Messen und Gewissheit. Die von Hand gezeichneten Linien funktionieren wie Seismographen, nehmen innere und äussere Befindlichkeiten auf, ein Stocken, einen Unterbruch, eine Ablenkung, Stille, Kon-zentration. Der performative Akt der Ausführung wird zum Zustandsbericht sowohl des Individuums als auch des Zeitgeschehens.
2023ff. Für den Lienhard Kalender hat Beatrice Dörig ein gängiges Format gewählt, zwölf Blatt – ein klassischer Kalender, Monat für Monat Blatt für Blatt nach hinten wendbar. Doch anders als andere Kalender gibt es keine Beschriftungen, keine Zahlen.
Noch ist das Jahr nicht angebrochen. Becoming Form verlangt unser Zutun.
Einbetten. «Becoming Form – Ausgleichen I-XII» orientiert sich an früheren Werkreihen mit unendlichen Linien wie «Chronos – Topografie der Zeit», «Endless Floating», «Liegende Acht» oder «Infinity». Es geht um Zeit und Raum als Ausfluss von Linien und umgekehrt.
Was ist Zeit? Und wie lange?
Kreis und Spirale sind Urformen von Zeiterfassung, bekannt etwa aus prähistorischen Felszeichnungen. Ein besonderes Bild ist der Ouroboros als Symbol des in sich geschlossenen Wandlungsprozesses.
«Du gehst einfach hin und sitzt und schaust.» Es sei eine einfache und jedem zugängliche Erfahrung, wie beim Betrachten der Natur, meint Agnes Martin (1912-2004), die für ihre intensiven und doch zurückhaltenden Linienbilder bekannt ist. Diese Empfehlung der amerikanischen Malerin zum Betrachten ihrer Bilder lässt sich auch für das Betrachten der Zeichnungen von Beatrice Dörig anwenden.
Rückblicken. Beatrice Dörig ist 1968 geboren, auf dem Hohberg am Rande von Herisau in einer ländlichen und kulturnahen Umgebung aufgewachsen. Das Werken mit den Händen drinnen und draussen gehört ebenso zum Alltag wie die Achtung vor dem Lauf der Zeit und den Dingen.
Nach dem Besuch der Schule für Gestaltung in St.Gal-len arbeitet Beatrice Dörig in Bereichen wie Bühnenbild und Figurenbau. Seit nunmehr 25 Jahren ist sie als bildende Künstlerin unterwegs. Dieser Weg hat seit ihrer Beschäftigung mit der Linie ab 2017 Fahrt aufgenommen. Eine Fahrt, in der die Prägungen vergangener Jahre in künstlerischen Setzungen zunehmend zum Vorschein kommen. Verschiedene Auszeichnungen bestätigen formal die Richtigkeit des Lebensentscheids. Emotionale Gewissheit gibt eine kontinuierliche Werkentwicklung, ein stetes in-Bewe-gung-, Neugierig- und Wachbleiben.
Vermuten. Unser Blick folgt den Spuren der Künstlerin wie die Nadel des Tonabnehmers den Rillen im Vinyl. Zwölf Singles sind es, die sie uns vorlegt. Musik, Klänge, Schwingungen wachsen in den Raum. Ist es die Herkunft, die dem Schaffen von Beatrice Dörig diese Verbundenheit mit dem Essentiellen, mit der Frage nach der Bedeutung von Zeit gibt? Zwischen Zurückhaltung und Reduktion einerseits und einer grossen optischen Wirkung andererseits steht ein selbstverständliches Wissen um das Repetitive und gleichzeitig Einzigartige.
Wissen. Nein, wir kommen nie mehr an den Anfang zurück. Wir steigen – das Bild des Heraklit bleibt gültig – nie zweimal in denselben Fluss. Aber wir erinnern uns an die vergangenen Male.
Der Kalender lässt sich erneut verwenden, das Erleben der Kreisformen ist ein anderes.
Ursula Badrutt, Kunsthistorikerin
Beatrice DörigsSchaffen
weitereKalender
2025 coming soon
2024 Katrin Mosimann